Schön, aber unbedeutend: So sehen viele Menschen den Wirtschaftsstandort Bodensee. Und zwar nicht nur Menschen fernab in den Metropolen der angrenzenden Länder, also in Frankfurt oder Berlin, Zürich oder Bern, Graz oder Wien. Sondern auch Menschen, die hier leben. Dass rund um den See ökonomische Kraftzentren von europäischem Rang liegen, wissen sie bisweilen gar nicht.

Das sagt einer, der sich seit Jahrzehnten mit dem Thema wissenschaftlich befasst: Roland Scherer von der Universität St. Gallen. Und seine Diagnose klingt vielleicht lustig, ist aber erschütternd: „Die Leute denken nur an die Fischerin vom Bodensee.“

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Das Image des 50er-Jahre-Fremdenverkehrs sitzt tief, mit Schwan und Kahn im Abendrot und der Melodie, die von der Höh‘ erklingt. Wie tief, hat Scherer an einem kleinen Beispiel erfahren. Er war mit einer hochrangigen Delegation einst in Berlin, um für den – inzwischen erfolgten – Ausbau der Bahnstrecke Ulm-Friedrichshafen zu werben.

„Wir sind leistungsfähig, aber keiner weiß es. Wir müssen sehen, dass wir die Leute und die Investitionen hierher bekommen“: Roland ...
„Wir sind leistungsfähig, aber keiner weiß es. Wir müssen sehen, dass wir die Leute und die Investitionen hierher bekommen“: Roland Scherer, Direktor des Instituts für Systemisches Management und Public Governance an der Universität St. Gallen | Bild: Ulrike Sommer

Bodensee? Da wollen doch nur ein paar Touristen hin

Sie führt an den Hauptstandort eines der größten Automobilzulieferer Europas. Der damalige ZF-Chef war auch mit dabei, erzählt Scherer. Und die Gäste vom Bodensee rund um einen Konzernlenker von Weltrang mussten sich anhören, dass außer ein paar Touristen doch niemand an den Bodensee reise.

(Archivbild) Von Konstanz aus nur einmal über den See: ZF in Friedrichshafen gehört zu den größten Industrieunternehmen des Landes.
(Archivbild) Von Konstanz aus nur einmal über den See: ZF in Friedrichshafen gehört zu den größten Industrieunternehmen des Landes. | Bild: Felix Kästle

Vielleicht hat sich im Wirtschaftsausschuss des Konstanzer Gemeinderats nur deshalb niemand über diese Begebenheit aufgeregt, weil sie in Friedrichshafen spielte. Vielleicht ist die fehlende Aufregung aber auch eine Bestätigung für Scherers These: Im Bewusstsein der Region rund um den Bodensee und insbesondere der Konstanzer Stadtgesellschaft spielt die Bedeutung der Industrie keine besonders große Rolle. Und das, obwohl die Industriebetriebe rund um den Bodensee, in die auch viele Konstanzer pendeln, laut Scherer drei bis vier Milliarden Euro pro Jahr in die Region investieren.

Marc-Peter Schambach ist einer der vergleichsweise wenigen Konstanzer, die auch in einem Konstanzer Industriebetrieb arbeiten. Er engagiert sich in der Mitbestimmung bei Körber, die von Siemens das Geschäft der Brief- und Sortiermaschinen übernommen und sich dabei auch zum Standort bekannt haben.

„In Konstanz denken wir oft nicht an die Industriebetriebe, die es noch gibt. Dabei sind die Arbeitsplätze dort so wichtig“: Marc-Peter ...
„In Konstanz denken wir oft nicht an die Industriebetriebe, die es noch gibt. Dabei sind die Arbeitsplätze dort so wichtig“: Marc-Peter Schambach, Betriebsratsmitglied bei Körber | Bild: SK

Körber-Betriebsrat Schambach appelliert ebenfalls, die Industrie nicht zu vergessen in einer Stadt, die ihr produzierendes Gewerbe weitgehend verloren hat. Die Arbeitsplätze, so Schambach jüngst im Wirtschaftsausschuss des Gemeinderats, seien für die Stadt enorm wichtig.

(Archivbild) High-Tech aus Konstanz: Die Hamburger Körber-Gruppe kaufte Mitte 2022 die Post- und Paketlogistiksparte von Siemens. Körber ...
(Archivbild) High-Tech aus Konstanz: Die Hamburger Körber-Gruppe kaufte Mitte 2022 die Post- und Paketlogistiksparte von Siemens. Körber ist einer der letzten industriellen Arbeitgeber in der Stadt. | Bild: pixbytemedia

Auch die politischen Mitglieder des Ausschusses wirken überrascht. Dass im Bodenseekreis, der Heimat von Pfahlbauten, Affenberg und Ravensburger Spieleland, nur sieben Prozent der Wertschöpfung aus dem Tourismus kommen, hätte sie offenbar nie gedacht. Und auch, dass die Rolle von Handel, Hotellerie und Gastronomie für den Wirtschaftsstandort Konstanz oft überschätzt werde, wie Forscher Scherer sagt.

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Der Verwaltungswissenschaftler mit Schwerpunkt Regionalökonomie hat eine Reihe von klaren Botschaften. So hängt die Zukunft des Wirtschaftsstandorts wesentlich davon ab, ob genügend Fachkräfte zur Verfügung stehen – und wie sich Unternehmen auf die Vorstellungen der jungen Generation von der Arbeitswelt einlassen. Hochschulen müssten besser eingebunden werden, und ohne öffentliches Geld gehe in der Transformation nicht.

Der erste selbstfahrende Bus in der Region kommt aus... Finnland

Und dass in Schaffhausen ausgerechnet der erste einsatzbereite selbstfahrende Bus in der Region aus Finnland komme, schmerze ihn – ausgerechnet in einem Wirtschaftsraum, in dem jeder weite Arbeitsplatz an der Mobilitätsindustrie von Auto über Zug bis Flugzeug hänge.

Oberbürgermeister Uli Burchardt hatte Roland Scherer zu seinem Vortrag in den Wirtschaftsausschuss eingeladen, und er zeigte sich gleichermaßen beeindruckt wie alarmiert. Vom „Fischerin vom Bodensee“-Image kann die Region nicht leben, das ist Burchardt klar. Und er hat einer Kernforderung Scherers dann auch nichts mehr hinzuzufügen: „Wir sind leistungsfähig, aber keiner weiß es. Wir müssen sehen, dass wir die Leute und die Investitionen hierher bekommen“.