Geschichten von Neubürgern in Überlingen haben meist ein Happy End. Man zieht hierher, um zu bleiben. Im SÜDKURIER haben wir schon mehrfach Leute zu Wort kommen lassen, die sich bewusst für ein Leben am Bodensee entschieden haben. Oft erfolgt dies in der dritten Lebensphase. Gründe gibt es viele: schöne Landschaft, pittoreske Altstadt, kulturelles Angebot, intakte Infrastruktur, die Nähe zu den Schweizer Bergen.

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Von Überlingen nichts gewusst

Diese guten Gründe überzeugten auch den 63-jährigen Konrad Reichel. Er zog vor genau einem Jahr von Mannheim nach Überlingen, weil ihm Freunde die Stadt am Bodensee empfohlen hatten. „Ich habe nichts von Überlingen gewusst.“ Fotos und Beschreibungen waren alles, was zu der Entscheidung beitrug, nachdem er plötzlich alleine im Leben stand und eine neue Heimat suchte.

Konrad Reichel (links) in einem Café in Überlingen, hier im Gespräch mit SÜDKURIER-Redaktionsleiter Stefan Hilser.
Konrad Reichel (links) in einem Café in Überlingen, hier im Gespräch mit SÜDKURIER-Redaktionsleiter Stefan Hilser. | Bild: Lina Regenscheit

Über Immoscout fand er eine Wohnung und verabredete einen Besichtigungstermin. Er fuhr nun zum ersten Mal in seinem Leben nach Überlingen. „Es war ein nebliger Tag, man hat nichts gesehen. Meine Vermieterin zeigte mir ein Foto, wie man vom Balkon aus teils auf den Bodensee sieht.“ Er unterschrieb den Mietvertrag und kam mit Sack und Pack im April 2023 hier an.

Rückkehr beschlossen

Jetzt, ein Jahr später, teilt er mit: „Ich muss zurück nach Mannheim.“ Zwar habe sich alles erfüllt, was ihm seine Freunde über Überlingen an schönen Dingen prophezeiten. „Aber wir sprachen nicht über die Menschen, nicht über den Menschenschlag.“ Bevor Reichel erläutert, was er genau damit meint, berichtet er über die Zeit in Mannheim, und warum er die Zelte dort abgebrochen hat.

Ein Leben als Puppenspieler

„Meine Frau ist im Februar 2021 an einer Hirnblutung von heute auf morgen gestorben“, berichtet Konrad Reichel in aller Offenheit. Er kommt mit fremden Menschen schnell ins Gespräch – sein Mannheimer Dialekt lässt ihn authentisch wirken. Reichel arbeitete seit seinem 15. Lebensjahr bei den Mannheimer Puppenspielen. Zeitweise täglich. „Wir haben viele Kinderstücke gespielt. Mein Bruder und ich waren oft die Zwillinge in ‚Das Gespenst von Canterville‘“.

Einsatz für arme Menschen

Wie Reichel beschreibt, war er nebenberuflich Puppenspieler. Hauptberuflich war er bei den Stadtwerken Heidelberg für Härtefälle in der Kundschaft zuständig. Sein Beruf war es herauszufinden, wer von den säumigen Stromkunden wirklich kein Geld hat, und zu welchen Ratenzahlungen sie imstande seien. „Wir haben immer eine Lösung gefunden. Du musst ein Gespür dafür haben, wer dich anlügt“, beschreibt er seine Arbeitsweise. Manch einer sei im dicken Mercedes vorgefahren und habe dann gejammert, dass er den Strom nicht zahlen könne, berichtet Reichel lachend.

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Reichel hat drei Kinder aus seinen beiden ersten Ehen. „Bei manchen Menschen läuft das Leben linear. Bei mir machte es ein ständiges Auf und Ab“, sagt er mit weit nach oben schwingenden Armen. „Ich möchte nicht entscheiden, was das bessere Leben ist.“

Der plötzliche Tod seiner Frau

Mit seiner dritten Frau kaufte er sich 2015 ein Einfamilienhaus in Mannheim. Sie bauten es aufwändig zu ihrem Traumhaus um. 2021: Er stand am Beginn des passiven Teils seiner Altersteilzeit. „Wir schmiedeten Pläne. Wir wollten große Reisen unternehmen.“ Dann ihr plötzlicher Tod. Reichels Augen werden feucht, er winkt ab und will nicht näher darauf eingehen. Doch eines macht er deutlich: „Ich möchte in diesem Haus nicht mehr leben. Nicht so alleine. Das war die emotional schlimmste Zeit.“

Liebe zu den Bergen

Mit einer Freundin aus alten Tagen kaufte er im Kanton Glarus auf 1400 Metern eine Ferienwohnung. „Die Berge sind meins.“ Außerdem besaß er zwei Dauerstellplätze auf Campingplätzen in Staufen im Breisgau und in Rothaus am Schluchsee. Plus ein Wohnmobil. Was ihm aber noch fehlte, das war ein neuer fester Wohnsitz. Und da fiel die Wahl auf Überlingen. Die Stadt lag strategisch günstig im Dreieck zwischen Glarus, Schwarzwald und Mannheim.

Als „Touri“ abgestempelt

Er hatte gehofft, hier heimisch zu werden. Nun aber zieht er wieder weg. „Überlingen ist eine Touristenstadt, und ich bin nach einem Jahr immer noch Tourist. Ich bin kein Einheimischer und habe immer einen Stempel aufgedrückt bekommen: ‚Mit dem brauchen wir uns nicht anfreunden, der fährt ja eh wieder weg‘“. Reichel babbelt Mannemerisch, also den Dialekt des Rhein-Neckar-Raums. Das habe den Nimbus des unsteten Touristen noch verstärkt. „Hier bin ich immer alleine geblieben. Ich habe niemanden gehabt zum Reden.“

Am Glühweinstand

Es gibt auch Positivbeispiele. Doch ihm kommen die Beschäftigten in einem Supermarkt abweisend und grätig vor. Er fühlte sich am Glühweinstand auf dem Weihnachtsmarkt nicht dazugehörig. Und den städtischen Bürgerservice empfand er vom Tag der Ummeldung an als „Katastrophe hoch acht“. Willkommenskultur? Reichel findet: Nein! Andere Städte würden Neubürger besonders willkommen heißen. In Überlingen: „Nullkommanull, gar nichts.“

Weiterhin auf der Flucht

Der 63-Jährige sagt: „Seit dem Tod meiner Frau bin ich auf der Flucht: Vor meinem Leben oder davor, sesshaft zu werden, was auch immer. Ich bin in den zwei Jahren nach dem Tod meiner Frau 100.000 Kilometer gefahren. Vielleicht hat das auch eine Rolle gespielt, dass ich nicht sesshaft werden konnte.“

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„Vielleicht ist meine Erwartungshaltung zu hoch. Vielleicht habe ich der Stadt keine zweite Chance gegeben“, räumt Reichel ein und lässt ein lang gezogenes „Aaaaber“ folgen. „Aber Überlingen hat sich für mich auch nicht so dargestellt, dass ich für fünf Wochen am Stück bleiben wollte.“ Er entschied sich für eine Rückkehr nach Mannheim. Als diese für ihn befreiende Entscheidung gefallen war, lernte er eine Frau in Mannheim kennen, was ihn in der Entscheidung bestätigte. „Sie tut mir gut.“